Gemüse schneiden, Wäsche sortieren oder beim Bäcker Brötchen holen – es sind alltägliche Aufgaben, über die wir nicht viel nachdenken. Für die jungen Bewohner der Wohngruppe „Haus am Berg“ sind es bedeutende Schritte auf dem Weg zu mehr Selbstständigkeit. Sie leben mit der Diagnose Autismus und brauchen klare Strukturen, einen Plan und ein Ziel, um ihre Freizeit und ihren Alltag gestalten zu können. Dass eine Autismusspektrumstörung (ASS) wenig mit Superhirnen, Gefühllosigkeit, Sheldon Cooper oder dem Film „Rain Man“ gemeinsam hat, erfuhren wir von Einrichtungsleiterin Nadine van Mierlo. Ein aufschlussreicher Besuch.
Das Wetter spielt leider nicht mit: Statt grüner Idylle am Hülser Berg erwarten uns Dauerregen und Pfützen. Auch der Fototermin in der Wohngruppe für autistische Kinder und Jugendliche läuft nicht wie geplant, die beiden Jungs Oli und Nico verkriechen sich lieber in ihren Zimmern und wollen nicht vor die Kamera. Flexibilität ist angesagt, und so führt uns Nadine van Mierlo gelassen zu einem Spielraum, in dem die charmante Amy mit einfachen Gebärden versucht, den Betreuern Gummibärchen abzuluchsen. „Fast alle der aktuell zehn Teenager hier können nicht sprechen und sind auf andere Mittel zur Kommunikation angewiesen“, erklärt die 40-Jährige freundlich. Spontan demonstriert sie, wie ein sogenannter Talker, ein Tablet-PC mit Sprachsoftware, nicht-sprechende Menschen dabei unterstützt, mit anderen zu kommunizieren und Bedürfnisse zu äußern. Die Heilerziehungspflegerin arbeitet bereits seit acht Jahren mit viel Herzblut im „Haus am Berg“ und strahlt eine tiefe innere Ruhe aus, die sich wohltuend auf Bewohner, Mitarbeitende und Gäste auswirkt. Denn trotz der abgelegenen Lage direkt am Waldrand könne es wegen Reizüberflutung durch Lärm oder Licht zu stressbedingten Krisen kommen. „Menschen mit Autismus nehmen ihre Umwelt anders wahr und sind häufig von der Fülle der Eindrücke überwältigt. Heute habe ich mich schon komplett umgezogen, weil ich mit Dreck beworfen wurde“, erzählt sie und lacht.
Wir steigen gleich ein in die Tiefen der Wissenschaft, auf karierten Zetteln hat die gut vorbereitete Einrichtungsleiterin eine Definition festgehalten: „Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die in der frühen Kindheit mit ersten Auffälligkeiten beginnt. Beispielsweise haben Kinder nur wenig Interesse am gemeinsamen Spiel oder vermeiden Blickkontakt. Oft geht diese medizinische Diagnose auch mit geistigen Beeinträchtigungen einher.“ Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet zwischen den drei Kategorien „frühkindlicher Autismus“, was laut van Mierlo auf die meisten Bewohner der beiden auf ASS spezialisierten Lebenshilfe-Häuser in Hüls zutrifft, „Asperger-Syndrom“, das auch hochfunktionalen Prominenten wie Albert Einstein und Greta Thunberg zugeschrieben wird, und dem sehr seltenen „atypischen Autismus“. Doch in der Praxis sind die Grenzen fließend, sodass oft der Oberbegriff „Autismusspektrumstörung“ verwendet wird. Allen Formen gemeinsam sind mehr oder weniger ausgeprägte Probleme in der sozialen Interaktion und auffällige Verhaltensweisen und Gewohnheiten. Zahlen über die Häufigkeit von Autismus in Deutschland liegen nicht vor, derzeit wird eine weltweite Prävalenz von 0,6 bis 1 Prozent angenommen. „Bei Jungen tritt Autismus viermal häufiger auf als bei Mädchen“, weiß Nadine van Mierlo und zeigt uns die Gemeinschaftsräume wie Küche und Waschkeller. An den weiß getünchten Wänden hängen Bildkarten mit Fotos und farbigen Symbolen, große Uhren und Tagespläne.
„Unser Ziel ist es, für die Bewohner eine höchstmögliche Selbstständigkeit im Rahmen ihrer individuellen Möglichkeiten zu erreichen. Daher arbeiten wir mit Elementen der TEACCH-Methode. Sie hilft dabei, den Alltag zu strukturieren und die Reizüberflutung gering zu halten“, macht die Hausleiterin deutlich. Der kommunikationsorientierte Ansatz stammt aus den USA und ist eine Form visuellen Lernens, die speziell für Menschen im Autismus-Spektrum entwickelt wurde. „Viele unserer Bewohner haben Schwierigkeiten, sich ihre freie Zeit einzuteilen. Sie leben im Hier und Jetzt, und alles ist gleichwichtig. Mit Bildkarten, sinnvollen Tischaufgaben oder To-Do-Listen schaffen wir Strukturen und trainieren, Entscheidungen zu treffen. Oli kann beispielsweise auf eine Scheibe mit verschiedenen Optionen deuten und festlegen, ob er fernsehen, schlafen oder spazieren gehen möchte. Nico nimmt gern Personen an die Hand, wenn er etwas möchte. Andere holen Schuhe oder Schlüssel und zeigen damit ihre Wünsche. Jeder Autist ist anders, aber alle brauchen Rituale und feste Abläufe.“ Daher sei auch der Personalbedarf hoch und eine Eins-zu-eins-Betreuung sinnvoll, sagt van Mierlo mit festem Blick. Knapp 50 pädagogische, pflegerische und hauswirtschaftliche Fachkräfte unterstützen die Kinder und Jugendlichen im „Haus am Berg“ je nach Bedarf – und vor allem rund um die Uhr. „Eine intensive Zusammenarbeit mit Angehörigen und Eltern gehört zu unserem Alltag dazu. In regelmäßigen Abständen geht es zu Elternwochenenden nach Hause“, erläutert sie das Konzept. Im besten Fall könnten die erworbenen Alltagskompetenzen wie Kochen, Einkaufen oder Körperpflege dort umgesetzt werden.
„Für uns ist es normal, dass wir verschieden sind. Wir sind überzeugt, dass wir alle unser Leben selbst bestimmen und gestalten dürfen.“ So lautet das Leitbild der Lebenshilfe Krefeld, die als eingetragener Verein nicht nur das „Haus am Berg“ betreibt. Neben der Routine in der Wohngruppe, dem Schulbesuch und der Arbeit in der Werkstatt sorgten daher auch gut geplante Ausflüge zur Eisdiele oder Pommesbude „im Dorf“ und Sommerfahrten nach Renesse oder bei den Erwachsenen auch ein Besuch im Disneyland Paris für Abwechslung, ohne dass der ordnende Rahmen ganz aufgegeben werde, sagt van Mierlo. „Die Betreuer sind immer dabei und geben Sicherheit. Natürlich ist im Vorfeld solcher Freizeitaktivitäten einiges zu organisieren, für den Besuch eines Restaurants in Holland hatten wir sogar eigenes Plastikgeschirr dabei“, berichtet sie fröhlich. „Dann saßen alle einfach entspannt am Tisch und aßen ihre Pfannkuchen, und ich wusste: Dafür machen wir das!“
Wenn Nadine van Mierlo von den kleinen Fortschritten ihrer langjährigen Schützlinge schwärmt, zwischendurch immer wieder in Lachen ausbricht oder mit den Händen redet, wird klar: Sie hat sich definitiv für den richtigen Beruf entschieden. „Schon mit zwölf Jahren wusste ich, dass ich als Heilerziehungspflegerin arbeiten will. Nach meiner Ausbildung habe ich zunächst Erfahrungen mit erwachsenen Menschen mit Beeinträchtigung sowie Senioren gesammelt. Hier ist trotz fester Abläufe rund um die Mahlzeiten kein Tag wie jeder andere, und ich liebe diese Freiheit, flexibel den Alltag mit den Kids zu gestalten und zu überlegen, wie ich mit wem am besten kommuniziere oder neue Aufgaben angehe. Das ist unglaublich wertvoll.“ Mit Yogaübungen und Tanzen entspannt sich die „fürsorgliche Realistin“, wie sie im Freundeskreis genannt wird, von so vielseitigen wie anstrengenden Arbeitstagen im Traumberuf. Nur Filme wie „Rain Man“ oder Serien über Autisten schaut sie garantiert nicht, solange sich die Macher nur auf schrullige Genies und Klischees beschränken. In Anlehnung an eine rheinische Redensart sagen wir schlicht: „Jeder Mensch ist anders.“ Und das ist auch gut so.