Derzeit tobt gewissermaßen direkt vor unserer Haustür ein kriegerischer Konflikt, wie wir ihn in Europa eigentlich nicht mehr für möglich gehalten haben. Die Welt ist sich sehr einig darin, im russischen Präsidenten Wladimir Putin den Schuldigen, den Aggressor zu sehen. Sein Entschluss, die Ukraine anzugreifen, wird dabei oft pathologisiert oder zumindest psychologisiert: Er sei ein narzisstischer, machtbesessener Macho, der auf gar keinen Fall zulassen kann, dass man ihn einer Schwäche bezichtigt. Also schlage er unbarmherzig zu.
Aber Aggression ist bekanntlich keine Eigenschaft, die ausschließlich Machthaber betrifft. Wahrscheinlich kennen viele das Gefühl, in eine Ecke gedrängt zu werden, die Beherrschung zu verlieren und austeilen zu müssen. Meist fühlen sie sich danach schlecht, weil sie wissen, dass sie überreagiert haben, ihre Reaktion unangemessen war und sie damit einen anderen verletzt haben. Anstatt Stärke zu demonstrieren, haben sie eine Schwäche offenbart. Die Frage, die sich dann stellt, lautet: "Warum bin ich in bestimmten Situationen nicht gelassener?" Doch es wird eher andersrum ein Schuh daraus: Wenn man gelassener wäre, würde man erst gar nicht in die Situation kommen, die Beherrschung zu verlieren. Nun hat der Kreislauf aus Fehlverhalten, Schuldgefühlen und Selbsvorwürfen noch niemanden wirklich weitergebracht. Wichtig ist es, diesen Kreis zu durchbrechen. Aufzuhören, sich selbst zu zerfleischen und sich dazu zu ermahnen, doch endlich souveräner zu sein. Denn das führt noch nicht wirklich zu einer Veränderung.
Eine bessere Strategie ist es, sich zu fragen, warum man in bestimmten Situationen immer wieder aus der Haut fährt. Nicht beim Selbstvorwurf und bei der Ermahnung, zukünftig gelassener zu sein, stehenzubleiben, sondern stattdessen einen Schritt weiterzugehen. Was fühlen Sie in den Situationen, in denen Sie aus der Haut fahren? Und woher kommt dieses Gefühl? Meist fußt es auf Erfahrungen, die Sie gemacht haben und vor deren Hintergrund eine Überreaktion verständlich war, bevor sie sich dann irgendwann davon abgekoppelt und verselbstständigt hat. Oft ist diese Reflexion ein erster Schritt zur Gelassenheit: Wenn Sie nämlich merken, dass Sie Verhaltensmuster anwenden, die für eine längst vergangene Situation gedacht waren. Dass Sie im aktuellen "Angreifer" eine ganz andere Person sehen und in ihrem vermeintlichen Affront eine Demütigung wiedererkennen, die tatsächlich schon weit zurück liegt. Machen Sie sich bewusst, dass Sie Programme abspulen, die Ihnen nicht helfen. Halten Sie inne, wenn Sie spüren, dass Ihr Blut zu kochen beginnt, atmen Sie tief durch und fragen Sie sich, ob der erste Impuls wirklich der angemessene ist. Schon diese kurze Pause wird wahrscheinlich dazu führen, dass Sie souveräner reagieren können. Was natürlich nicht heißt, dass es nicht Konflikte gibt, in denen Wut oder Enttäuschung völlig angemessen sind. Es geht nicht darum, Gefühle zu unterdrücken, sondern darum, ein anderes Ventil für sie zu finden.
Selten führt die Überreaktion zu einer Lösung. Sie erntet nur Unverständnis und verhärtet die Fronten. Das sehen wir aktuell auf großer politischer Bühne. Seien wir klüger. Atmen wir tief durch. Das ist manchmal alles, was es braucht.
Ihre Anja Funkel