Als bekannt wurde, dass Margot Käßmann, die damalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, mit Alkohol am Steuer erwischt worden war, trat sie noch am selben Tag von ihrem Amt zurück – obwohl der Rat der EKD ihr sein volles Vertrauen ausgesprochen hatte. Sie trotzte nicht wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung dem Ansturm der tosenden Wellen, sie schlug kein verzweifeltes Rückzugsgefecht: Vielmehr gestand sie ihren Fehler ein und zog aus freien Stücken die Konsequenzen. Wir würden sagen: Margot Käßmann bewies Haltung. Aber was bedeutet das genau? Was ist diese „Haltung“, von der wir so oft sprechen?

 

Haltung bezeichnet einerseits die rein physische Körperhaltung. Von einer guten oder gesunden Körperhaltung sprechen wir bei einem Menschen, wenn er aufrecht steht, das Kinn erhoben, die Schultern gerade, die Brust leicht herausgedrückt, den Blick nach vorn gerichtet. Das ist auch für unseren Körper am gesündesten: Knochen und Muskulatur erfüllen ihre tragende, stabilisierende Funktion, der Atem kann optimal fließen, wir nehmen auf, was um uns herum passiert. Eine gesunde Haltung wirkt sich aber in der Regel auch positiv auf unseren Gemütszustand aus – und umgekehrt: Wenn wir uns gut fühlen, gehen wir erhobenen Hauptes durch die Welt, fühlen wir uns schwach und verletzlich, machen wir uns klein, sind wir von Stress geplagt, verkrampfen wir, bis es schmerzt. Aber da sich Haltung und Stimmung wechselseitig beeinflussen, können wir durch Selbstbeobachtung Einfluss nehmen – zumindest in gewissem Rahmen: Durch bewusstes Lockern der Muskulatur schwindet auch die geistige Anspannung. Richten wir uns körperlich auf, weicht unser Gefühl der Verletzbarkeit.

 

Eine zweite Bedeutung von „Haltung“ benennt eine Art mentalen Zustand, die Einstellung zu sich selbst und der Umwelt. Wer „Haltung bewahrt“ zeigt Größe, beweist Stärke in der Krise. So assoziieren wir mit dem Begriff „Haltung“ oft jenen oben erwähnten Fels in der Brandung sowie Attribute wie „unverrückbar“, „prinzipientreu“, „stoisch“. Aber ist diese Art der Haltung wirklich immer die richtige, gesunde, wünschenswerte? Wenn man um jeden Preis an seinen Prinzipien festhält, anstatt immer wieder ihre Gültigkeit zu hinterfragen, versperrt man sich auch Möglichkeiten. Beweist man Stärke nicht ganz oft auch dadurch, dass man nachgibt, eine Schwäche zeigt oder einen Fehler zugibt – wie Margot Käßmann in unserem Beispiel? Ich glaube ja. Ein Baum wird vom Sturm entwurzelt. Ein Grashalm übersteht ihn, weil er ihm nachgibt.

 

„Haltung“ bedeutet eben nicht, sich hart zu machen, um jederzeit die Illusion von Stärke aufrechtzuerhalten. So sind wir nicht. Wir alle haben unsere Schwächen und Fehler und nicht alle davon werden wir im Laufe unseres Lebens abstellen können. Aber wir können lernen, mit unseren Schwächen umzugehen. Erkennen, wann wir von ihnen übermannt werden, und diese Situationen antizipieren, um vorbereitet zu sein. Aber auch Nachsicht und Milde mit uns selbst walten zu lassen, wenn wir uns falsch verhalten haben. Es gilt, uns diese Schwächen selbst zu erlauben. Uns zu gestatten, verlieren zu dürfen. Uns Unterstützung zu holen, wenn wir in einer Sackgasse stecken. Entspannt zu sein in dem Wissen, dass eine Krise nicht unser ganzes Sein angreift. Erst dann können wir anderen ein Fels in der Brandung sein. Es ist einfach, stark zu sein, wenn das Schicksal uns sowieso wohlgesonnen ist. Echte Haltung zeigt sich erst dann, wenn es wirklich darauf ankommt: im Moment einer Niederlage.