Neulich saß eine neue Patientin bei mir im Erstgespräch, das ich immer führe, um den Menschen hinter den Zähnen und die Ursachen seiner Beschwerden kennen zu lernen. Die Dame war Ende 40, hatte ein gepflegtes Äußeres und ein sympathisches Auftreten – aber war innerlich völlig verunsichert. Sie berichtete von wirklich großen Baustellen in ihrem Mund und von vielen Zahnproblemen, deren Lösung sie schon lange vor sich her schiebe. Sie wisse, dass einmal großflächig renoviert werden müsse, sie habe auch Geld sowie die nötige Zusatzversicherung. In den letzten Monaten habe sie bereits mehrere Anläufe unternommen, mit der Behandlung loszulegen. Im Gespräch merkte ich, dass neben der Verunsicherung auch noch etwas anderes der Patientin schwer auf der Seele zu liegen schien: Scham.
Gern frage ich meine Patienten in einem solchen Fall: Was ist Ihnen wichtig? Da brach die Patientin in Tränen aus, schluchzte und sagte: „Bitte verurteilen sie mich nicht! Bitte schimpfen Sie nicht mit mir! Bitte nehmen Sie mich ernst!“
Langsam fand ich heraus, dass ihre letzten Besuche beim Zahnarzt im Bereich der Menschlichkeit sehr zu wünschen übrig gelassen hatten. Die Kollegen hatten die Patientin von oben herab behandelt, gefragt, wie sie ihren Mund nur so habe „verfallen“ lassen können, ihr vorgeworfen, dass sie Mundgeruch habe, und ihr mitgeteilt, man müsse zunächst „alles rausreißen“, bevor man überhaupt irgendetwas aufbauen könne.
Leider höre ich immer wieder von solchen Fällen. Ein erwachsener, reflektierter und sich seiner Situation bewusster Mensch, der bereit ist, eine Veränderung herbeizuführen und Geld dafür auszugeben, wird in den durchoptimierten Systemen der Fließband-Praxen zwischen den Zahnrädern der Leistungsmaschine zermahlen und traumatisiert wieder ausgespuckt. Wer kennt das Gefühl nicht, beim Arzt oder im Krankenhaus als bloße Nummer durchgereicht zu werden?
Mittlerweile ist die Patientin versorgt, sie kann wieder kauen, lächeln und: wieder küssen. So wie sie mir im ersten Gespräch später anvertraute, war ihr das besonders wichtig. Diese beinahe intime Kleinigkeit hätte sie mir nie verraten, wenn ich mir nicht die Zeit für sie genommen und ihr das Gefühl vermittelt hätte, bei mir mit ihren Sorgen gut aufgehoben zu sein.
Lassen Sie uns also alle immer wieder daran denken, das wir neben unserem Geschäft auch genügend Zeit für den Menschen übrig haben. Die Menschlichkeit darf bei allem Stress nicht auf der Strecke bleiben!
W. Honnefelder