Ein und aus, langsamer oder schneller, tiefer oder flacher: Unsere Atmung ist immer hör- und spürbar und sie verrät uns viel über unseren Zustand. Ihre wichtigste Funktion ist es, unseren Organismus mit Sauerstoff zu versorgen, doch sie leistet weitaus mehr. In der Achtsamkeit spielt die Atmung daher eine hervorgehobene Rolle: Wenn wir lernen, uns ihrer zu bemächtigen, wird aus dem unbewusst ablaufenden Vorgang ein wichtiges Mittel der Selbsterkenntnis und ein Werkzeug zur Steuerung unseres Befindens.
Aus medizinischer Sicht ist die Atmung zuerst ein mechanisch-physiologischer Prozess, „bei dem Sauerstoff durch ein passives Druckgefälle in die Bronchien, die Lunge und die Lungenbläschen, die sogenannten Alveolen, und von dort über einen Diffusion in die Blutkapillaren transportiert wird“, wie Dr. Rudolf Hoffmann, Oberarzt der Pneumologie, Schlaf- und Beatmungsmedizin des Helios Klinikums Krefeld, erklärt. „Der zweite, ebenso wichtige Mechanismus ist der Abtransport von Kohlendioxid. Eine gesunde Atmung schafft ein Gleichgewicht, die Homöosthase, beider Gase, das die Grundlage lebensnotwendiger Stoffwechselprozesse in den körpereigenen Zellen ist. Gerät dieses Gleichgewicht aus den Fugen, kommt es zur Störung dieser Prozesse.“ Beim gesunden Menschen ist die Homöosthase automatisch gegeben und kurzfristige Disbalancen werden über die Atmung ausgeglichen. Anders verhält es sich etwa bei COPD-Patienten, die nicht mehr in der Lage sind, ausreichend Kohlendioxid abzuatmen. Susanne Hullmann, Leitende Atmungstherapeutin des Helios Klinikums, hat die Aufgabe, solchen Patienten zu helfen: „Die Herausforderung der Atmungstherpie besteht darin, alte Atemmuster abzulegen und die Angst zu überwinden, die akute Luftnot hervorruft. Denn wer unter Luftnot leidet, beginnt zu kompensieren, indem er schneller atmet. Das verschärft die Luftnot aber noch. Die Patienten geraten in einen Teufelskreis“, beschreibt Hullmann. „Dem wirken wir entgegen, indem wir so früh wie möglich mit dem Atemtraining beginnen, um eine Routine für die Akutsituation zu erzielen.“ Auch psychische Störungen wie Stress oder Angst können zu einer pathologischen Atmungsform führen. So wird Hoffmann bei seiner täglichen Arbeit oft mit jungen Patienten konfrontiert, die über Luftnot klagen, bei denen aber keine physische Ursache zu finden ist: „Bei vielen von ihnen ist es zur Lösung ihrer Beschwerden schon ausreichend, wenn man sie auf die Zusammenhänge zwischen ihren privaten oder beruflichen Sorgen und ihrer Atemnot aufmerksam macht. Oder wenn man ihnen versichert, dass sie keinen Krebs haben“, berichtet der Mediziner aus seinem Alltag.
Wenn sich Anspannung und Stress durch Herzschlag, höheren Muskeltonus oder Blutdruck bemerkbar machen, steckt dahinter der Sympathikus, der „Gegenspieler“ des Parasympathikus im vegetativen Nervensystem. Er übernimmt den aktiven Part der beiden und ist wesentlich dafür verantwortlich, uns handlungsfähig zu halten. Das kann problematisch werden, wenn uns die körperliche Anspannung, in die uns der Sympathikus versetzt, nicht handlungsfähig macht, sondern lähmt, zum Beispiel in Stresssituationen. Dann ist es hilfreich, Einfluss auf den Parasympathikus zu nehmen, der uns in Entspannung versetzt. Eine Möglichkeit dazu bietet das autogene Training, wie Heilpraktikerin für Psychotherapie Anja Funkel erläutert. „Ziel des autogenen Trainings ist es, unbewusst ablaufende körperinnere Prozesse gezielt wahrzunehmen und positiv zu beeinflussen. Ein Mittel dazu ist die Atmung. Atemübungen können dabei helfen, sich in Stress- oder Angst- situationen, in denen Menschen oft hyperventilieren oder flach atmen, zu entspannen. Wer einmal merkt, dass er positiven Einfluss nehmen kann, der wird insgesamt sicherer und gelassener, weil er seiner Angst nicht mehr völlig ausgeliefert ist“, beschreibt Funkel. Hinter dem autogenen Training steckt Autosuggestion: Durch Wiederholen fester Formeln – zum Beispiel „Es atmet mich“ oder „Meine Arme und Beine sind schwer, ganz schwer“ – werden Körperzustände fühlbar und dann bei Bedarf positiv beeinflussbar. Wesentlich für die Wirkung des Trainings ist die regelmäßige Übung, denn nur dann stellt sich der gewünschte Automatismus ein. Auf dem Weg dorthin gilt es, Körperzustände und Gefühle nicht zu interpretieren und zu bewerten, sondern sie ganz urteilsfrei wahrzunehmen, Gedanken nicht abzuwehren, sondern sie passieren zu lassen. „Achtsamkeit bedeutet, sich selbst gegenüber aufgeschlossen zu sein, zu bemerken, was in einem vorgeht, sowohl in positiver wie negativer Hinsicht, und aus dem gewonnen Wissen über sich Selbstvertrauen zu schöpfen“, fasst Funkel zusammen.
Die Fähigkeit, mit Hilfe der Atmung den Paraysmpathikus zu aktivieren und die eigene Ruhe auf andere zu übertragen, setzt Zahnarzt Wojtek Honnefelder täglich ein. „Die meisten Menschen sind angespannt, wenn sie auf dem Zahnarztstuhl sitzen, und die Atmung bietet einen wunderbaren Ansatzpunkt, um mit Ihnen ins Gespräch zu kommen“, berichtet der Zahnmediziner. „Ich möchte, dass meine Patienten sich bei mir wohlfühlen. Ganz davon abgesehen, ist ein entspannter Patient auch leichter zu behandeln: Er schluckt seltener und seine Zunge bewegt sich weniger.“ Wenn Honnefelder die Aufregung seiner Patienten bemerkt, versucht er, ihnen diese zu nehmen. „Das gelingt mir zum einen, indem ich selbst Ruhe ausstrahle, zum anderen, indem ich Techniken anwende, die die Spannung lösen“, beschreibt er sein Vorgehen. Honnefelder ist von der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Hypnose (DGZH) zertifiziert, doch ein Pendel oder ähnliche Kniffe braucht er nicht. „Das Pendel ist nur ein Werkzeug, mit dem man jemanden in den tranceartigen Zustand versetzt, den wir auch kurz vor dem Einschlafen erreichen. Es geht aber viel einfacher: durch eine ruhige Atmung und Stimme zum Beispiel“, weiß der 42-Jährige. Auch für sich selbst nutzt er Atem- und Entspannungstechniken. „Vor jeder größeren Behandlung ziehe ich mich für einige Minuten zurück und atme mich runter. Im Idealfall gerate ich in einen Flowzustand und eine drei- bis vierstündige Operation vergeht wie im Flug“, beschreibt er seine Routinen.
Noch mehr als ein Mittel der Selbsterkenntnis oder ein Werkzeug ist die Atmung für Yogalehrer Daniel de Lorenzo: „Alles ist Atmung“, resümiert er seine Erfahrungen. „Das Leben beginnt mit einem Einatmen und endet mit dem Ausatmen. Einatmen und Ausatmen, Aufnehmen und Loslassen, Geburt und Tod folgen unablässig aufeinander. Das kann man auf den ewigen Rhythmus der Natur übertragen, die über den Herbst zum Winter hin ausatmet, um im Frühling zum Sommer hin wieder einatmet, um neu zu erblühen.“ Wer in Yoga-Übungen oder in der Meditation einen tiefen Entspannungszustand erreicht, der atmet gewissermaßen mit der Welt, er erkennt sich als Teil dieses großen Ganzen wieder. „Besondere Beachtung gilt auch der Pause zwischen dem Ein- und dem Ausatmen, denn auch sie enthält ein Angebot der Entspannung. Wir nehmen es an und atmen ruhiger und tiefer.“ Faszinierend an der Atmung ist auch, dass wir sie nicht selbst dauerhaft anhalten können. „Es dürfte für einen gesunden Menschen unmöglich sein, sich durch einfaches Luftanhalten ohne Hilfsmittel selbst umzu- bringen“, sagt de Lorenzo. „Der Atem bricht sich immer wieder Bahn. Daran knüpft sich die Frage: Wer atmet da eigentlich?“ Eine Frage, die an die Formel „Es atmet mich“ aus dem autogenen Training erinnert. „Die Folge der meditativen Welterfahrung, dass alles im Fluss ist, alles, was kommt, unweigerlich auch wieder geht und nichts von Dauer ist, ist einerseits Gelassenheit, andererseits Selbstermächtigung“, so der ehemalige Bankkaufmann, der seiner Branche einst den Rücken kehrte. „Wenn wir merken, dass alles, was uns passiert, endlich ist, egal ob gut oder schlecht, erwachsen daraus ungeheure Klarheit und Kraft. Letztlich sind wir ein Teil des Ganzen, im Fluss des Lebens.“
Und dieses Leben benötigt den Sauerstoff, den uns die Atmung zuführt. Sie auf diese Funktion zu reduzieren, wird ihr jedoch nicht ge- recht. Ein erwachsener Mensch atmet 12- bis 18-mal pro Minute, das entspricht rund 20.000 Atemzügen täglich. Es scheint lohnenswert, etwas, das von so essenzieller Bedeutung für uns ist, nicht dem Unbewussten zu überlassen.