Gehen wie auf Watte, auf rohen Eiern oder Wolken. Jemanden aufs Glatteis führen oder endlich wieder festen Boden unter den Füßen spüren, zitternde Knie haben oder vor Freude ins Taumeln geraten: Unser Sprachgebrauch kennt zahlreiche Bilder, die Gemütszustände mit unserem Gang in Verbindung bringen. Wie wir uns bewegen, sagt aber nicht nur etwas über unsere Emotionen aus, es kann auch das Anzeichen einer schweren Erkrankung sein.
„Ich war immer sehr gut zu Fuß. In meinem Wanderverein bin ich stets vorneweg marschiert und brauchte nur selten eine Pause“, berichtet Agnes Weber. „Doch dann fiel mir eines Tages auf, dass ich immer langsamer wurde und die anderen auf mich warten mussten.“ Eine ungewohnte Situation für die 61-Jährige, umso mehr, als sie keinerlei sonstige Beschwerden hatte. Oft sind Herz- oder Lungenprobleme die Ursache für verminderte Mobilität, doch Agnes Weber war kerngesund. Schließlich landete sie mit ihrem Problem in der Neurologie der Klinik Königshof.
„Viele der möglichen Ursachen für die Beschwerden der Patientin waren bereits ausgeschlossen worden“, erinnert sich die Neurologin Ninja Christin Mancinelli. „Also fragte ich sie, ob sie sich beim Gehen unsicher fühle. Es war, als ob ich mit meiner Frage eine lange verschlossene Tür aufgestoßen hatte.“ Nach kurzem Nachdenken bestätigte die Patientin, dass sie einen stetigen leichten Schwindel verspüre und sehr gut aufpassen müsse, nicht zu stolpern. Der im Fachjargon sogenannte unspezifische Schwindel und die damit einhergehende Gangstörung sind typische Symptome für eine Neuropathie, eine Erkrankung der Nervenbahnen.
„Unspezifischer Schwindel unterscheidet sich vom Drehschwindel, den wir etwa bei Störungen des Gleichgewichtssinns oder bei Kreislaufproblemen empfinden“, führt Mancinelli aus. „Patienten haben das Gefühl, sie bewegten sich auf einem Gummiboden, der keinen sicheren Halt bietet.“ Einen Fuß sicher vor den anderen zu setzen, scheint eine relativ einfache Angelegenheit zu sein, doch tatsächlich steckt dahinter ein hochkomplexer Vorgang, bei dem es nicht nur auf das Funktionieren von Muskulatur, Gelenken und Knochen ankommt. Das Gehirn muss vielmehr eine Vielzahl von verschiedenen Informationen verarbeiten: welche Beschaffenheit hat der Boden, ist er glatt oder uneben, geht es bergauf oder bergab?
Das nötige „Datenmaterial“ sammelt das Gehirn zum einen über unsere Augen, zum anderen über die Nerven in unseren Füßen. Wenn sie die Informationen nicht mehr weiterleiten, tappt unser Hirn gewissermaßen im Dunkeln. Es stellt sich der unspezifische Schwindel ein, der dazu zwingt, bei jedem Schritt besondere Vorsicht walten zu lassen. Eine Neuropathie wird mittels ENG, der Elektroneurographie, festgestellt. Vergleichbar dem EKG werden bei der Untersuchung Elektroden an Fuß und Oberschenkel befestigt. Eine Messung ergibt, ob die Impulse richtig weitergeleitet werden.
Die Ursachen für eine Neuropathie sind vielfältig. Oft, in etwa 50 Prozent der Fälle, tritt sie in Verbindung mit Alkoholismus oder einer Diabetes-Erkrankung auf. Alkohol zerstört die Nervenbahnen selbst, bei Diabetes werden ihre Versorgungskanäle angegriffen. Die Therapie besteht in diesen Fällen zunächst darin, Abstinenz zu verordnen oder den Blutzuckerspiegel zu senken. Seltener ist eine genetische Erkrankung der Hintergrund. In ihrer Häufigkeit sind Neuropathien mit Schlaganfällen vergleichbar und betreffen etwa sechs bis acht Prozent der Bevölkerung. Das Risiko steigt mit zunehmendem Alter, aber auch junge Menschen können davon betroffen sein. Sind die Nervenbahnen tatsächlich beschädigt, lässt sich ihre Funktion nicht mehr wiederherstellen. Aber über die gezielte Physiotherapie oder sportliche Betätigung kann der Patient lernen, mit der Gangunsicherheit umzugehen.
„Die Bewegungstherapie dient vor allem als ,Gehirntraining’. Es gewöhnt sich durch die regelmäßige Übung daran, dass Informationen fehlen, und füllt dann die Lücken“, beschreibt die Neurologin den Effekt des Trainings. So gewinnen Patienten die verloren gegangene Sicherheit zurück und können Stürze vermeiden. Hilfreich ist viel Bewegung, vor allem muskelaufbauende Sportarten: leichtes Krafttraining, Leichtathletik, Gymnastik, Yoga oder Pilates. Auch Tanzen ist sehr gut geeignet.
Agnes Weber ist nach der Behandlung wieder mit ihrer Wandergruppe unterwegs. Zwar eilt sie nicht mehr allen voraus, aber sie hat gelernt, mit den anderen mitzuhalten. Das Schwindelgefühl ist weg, genauso, wie die Angst zu stürzen. „Ich muss mich etwas mehr konzentrieren als früher. Vor allem, wenn wir Strecken gehen, die ich noch nicht kenne“, gesteht sie. Es mache ihr aber nichts aus, dass sie heute etwas langsamer unterwegs sei. Schließlich gehe es beim Wandern ja nicht darum, möglichst schnell anzukommen. „Der Weg ist das Ziel!“, lacht sie. „Und ich will noch viele Kilometer hinter mich bringen.“
St. Augustinus Gruppe, Klinik Königshof
Am Dreifaltigkeitskloster 16, 47807 Krefeld,
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