Ein klarer Sommerabend auf dem Gelände des SV Oppum. Fußballtrainer Siggi Lehmann pfeift und ruft: „Bitte die Bälle am Sechzehner hinlegen.“ Das Torschusstraining hat begonnen, und die 20 Kinder folgen der Anweisung des Trainers. So auch Niels, der seinen Ball auf die Linie legt und gekonnt in den Winkel des Tores schießt. Doch Torwart Leon ist wachsam und faustet den Ball schwungvoll zurück aufs Spielfeld. Ein ganz normales Fußballtraining? Nicht ganz, die Besonderheit offenbart sich dem Beobachter erst auf dem zweiten Blick: Beim Inklusionstraining des SV Oppum trainieren Kinder mit und ohne Handicap gemeinsam.
Immer dann, wenn Inklusion Thema des öffentlichen Diskurses wird, etwa bei der Frage, ob Kinder mit Handicap am regulären Schulunterricht teilnehmen sollten, entstehen hochgradig kontroverse Diskussionen. Kritiker bemängeln, es sei eine Forderung aus dem Elfenbeinturm und schlicht nicht umsetzbar, Befürworter sehen in der Inklusion hingegen oft ein gesellschaftliches Allheilmittel. Selten jedoch sind Menschen wie Axel Müller und Siggi Lehmann vom SV Oppum, die Inklusion einfach in die Hand nehmen, allen Unkenrufen und Plädoyers zum Trotz. „Die Idee für unser Inklusionstraining ist im Jahr 2008 entstanden. Uns besuchte die Mutter eines Jungen mit Handicap hier im Vereinsheim und erkundigte sich, ob auch ihr Sohn am Training teilnehmen könne. Alle anderen Fußballvereine in Krefeld hätten sie abgewiesen“, berichtet Müller von der Entstehung der Inklusionsmannschaft und fährt fort: „Wir haben uns dann zusammengesetzt und überlegt, wie man das Anliegen der Frau umsetzen könnte. Wir waren damals die ersten, es gab keine Blaupause in der Schublade, keine Ansprechpartner und keine Plattform.“ Davon ließ sich der passionierte Vereinsvorsitzende jedoch nicht abhalten, schrieb die vom DFB geforderten Durchführungsbestimmungen nieder und gründete die bundesweit erste Inklusionsmannschaft. Das innovative Konzept aus Krefeld machte schnell Schule, und immer mehr Vereine öffneten ihr Training ebenfalls für Menschen mit Handicap.
2014 folgte dann der nächste große Schritt, wie Müller berichtet: „Wir haben am Niederrhein die erste sogenannte Handicap-Liga gegründet, als bundesweites Pilotprojekt unter dem Mantel des DFB. Die Regelwerke des Ligabetriebs sind dabei angepasst an die besonderen Bedingungen. Das Training findet nur einmal in der Woche statt und die Spiele einmal im Monat, es gibt auch keine Abseits- oder Rückpassregelungen. Der Spaß steht für uns im Vordergrund und nicht der Leistungsgedanke.“
Dass das Training Spaß macht und für alle Beteiligten gewinnbringend ist, merkt man den Kindern an, wenn sie fernab jeglicher Berührungsängste ganz selbstverständlich miteinander kicken. Und auch die Eltern am Spielfeldrand berichten durchweg positiv von den Auswirkungen des Trainings – auch auf ihre eigene Wahrnehmung. So auch die Duisburgerin Heike Janssen (50), die Mutter von Feldspieler Niels: „Obwohl mein Sohn selbst kein Handicap hat, ging er von Anfang an ganz selbstverständlich mit den anderen Kindern um. Ich hingegen war zunächst sehr zurückhaltend und wusste nicht so recht, was mich erwartet. Diese anfänglichen Unsicherheiten haben sich aber schnell aufgelöst, und ich habe alle Kinder und Eltern sehr ins Herz geschlossen.“
Mitmachen kann jedes Kind, unabhängig von der Art der Beeinträchtigung, denn der reduzierte Leistungsdruck ermöglicht es allen Kindern, gemäß ihren Fähigkeiten mitzuspielen, wie Siggi Lehmann, Trainer der Inklusionsmannschaft, erläutert: „Wir haben Kinder mit körperlichen und geistigen Handicaps. Es gibt offensichtliche Einschränkungen wie das Down-Syndrom, aber es gibt natürlich auch solche, die äußerlich nicht direkt auffallen, wie das Asperger-Syndrom.“ Auch das Alter der Kinder ist breit gefächert. Zwischen acht und 16 Jahre alt sind die Mitglieder der Junioren-Mannschaft. In den vergangenen Jahren ist die Teilnehmerzahl kontinuierlich gewachsen, und so konnten im Laufe der Zeit immer weitere Trainingsklassen gebildet werden. Unterstützt wird das Projekt seit mehreren Jahren von der Sparkasse Krefeld mit Geldern aus der Sparkassenstiftung.
Aber auch jenseits der Stadtgrenzen hat das Konzept bereits hohe Wellen geschlagen. Als Teil des landesweiten Inklusionsprojektes „Sport und Inklusion im Verein“, durchgeführt vom Land NRW, dem Landessportbund und dem Behindertensportverband, wird das Inklusionstraining des SV Oppum mittlerweile auch wissenschaftlich begleitet, um die langfristige Entwicklung zu dokumentieren und daraus überregional umsetzbare Konzepte abzuleiten. Die Chancen, dass das Projekt in Zukunft deutschlandweit etabliert wird, stehen somit sehr gut, was Initiator Axel Müller sehr freut: „Meine Wunschvorstellung ist, dass der DFB das Thema Inklusion auf breiter Ebene umsetzt. Wir haben derzeit in Deutschland sehr viele Einrichtungen und Behindertensportverbände, es fehlt aber eine große übergeordnete inklusive Struktur.“
Das Abschlussspiel steht an. Für viele das Highlight des Trainings. Siggi Lehmann verteilt blaue und rote Lätze, und die Kinder beziehen ihre Spielhälften und Positionen. Niels und Leon spielen im roten Team und sind beide in Topform. Nach einem hart umkämpften Match gewinnt ihre Mannschaft 3:2. Erschöpft, aber glücklich, verlassen sie das Spielfeld und freuen sich bereits auf das nächste Training. Beide schätzen die lockere Atmosphäre und den fairen Umgang untereinander. „Keiner lacht den anderen aus, und man findet hier sehr viele Freunde“, erzählt der 12-jährige Torwart Leon freudig und gratuliert seinem Teamkollegen Niels zum tollen Spiel. Sein Handicap, eine linksseitige Gehbehinderung, spielt hier keine Rolle. Was zählt, sind der gemeinsame Spaß am Sport, Zusammenhalt und gelebte Toleranz. Essenzielle Erfahrungen, die aus den kleinen Kickern von heute tolerante und mündige Erwachsene von morgen werden lassen.
SV Oppum 1910 e.V. , Sportpark Oppum, Am Holderspfad 200, 47809 Krefeld Telefon: 02151-543837, www.svoppum.de