King Minh Tang hängt an der Hinterseite des Cinemaxx in Krefeld an der Feuerleiter und macht Klimmzüge. Vor ihm auf der Auffahrt zum Kinoparkplatz läuft sein Kumpel Marcel Nguyen auf der Stelle. Die beiden jungen Krefelder wärmen sich auf. Etwa zehn Minuten lang, und dann traut man plötzlich seinen Augen nicht mehr: Während King Minh eine zwei Meter hohe Mauer anspringt, sich an der oberen Kante festhält und kurz in dieser Hängehaltung Kraft sammelt, um ganz hinauf zu hüpfen, springt Marcel neben ihm von der Mauer herunter – mit einem atemberaubenden Vorwärtssalto. Das Ganze dauert keine drei Sekunden, und die beiden machen es noch einmal. Und noch einmal, und noch einmal. Erst nach acht Versuchen sind sie zufrieden mit der technischen Ausführung ihrer „Moves“ . „Moves“ sind die Bewegungsformen bei der Trendsportart Parkour. Es sind viele, sehr athletische und akrobatische Übungen, vor allem Sprünge, Salti und Schrauben, wie man sie etwa aus dem Zirkus kennt. Nur dass die Parkourläufer keine Zirkuskuppel, kein Trapez und auch kein Seil benötigen. „Wir kommen ohne Hilfsmittel aus, wir sind autonom. Das ist die absolute Freiheit. Wir bewegen uns draußen, und wir können überall laufen und springen. Das ist ein irrsinniges Glücksgefühl“ , schwärmt King Minh. Und Marcel ergänzt: „Parkour ist nicht nur Sport, es ist eine Lebenseinstellung. Die Philosophie dahinter, dass du dich konzentrierst, ganz im hier und jetzt bist und Barrieren überwindest, hilft dir, dich selbst und deine Grenzen einzuschätzen und die Angst zu überwinden.“ 

Angst kann man tatsächlich bekommen beim Parkour, schon beim Zuschauen. King Minh und Marcel rennen und springen zwar nicht über Dächer, wie das in vielen Videos über Parkour zu bestaunen ist. Aber auch ihre Moves wirken waghalsig. King Minh winkt ab: „Wir brechen uns nie etwas, wir haben höchstens mal eine Prellung. Wir üben alles ganz oft und sind vorsichtig. Und wir wissen, wie man es macht.“ Sagt’s, springt auf einen Müllcontainer und zeigt, wie er sich beim Absprung kunstvoll über die Schulter abrollt. Auf die Frage, ob er und Marcel bei immerhin 30 Grad im Schatten in langen Hosen trainieren, um die Haut an den Beinen zu schützen, lacht er und verneint: „Nö. Aber lange Hosen sehen cooler aus.“ Sehr cool sieht auch die Übung aus, die King Minh und Marcel am Krefelder Bahnhof am Taxistand vorführen: Synchron legen sie einen Sideflip – also einen Seitwärtssalto – über die Bänke hin, dass die Passanten nur so staunen. „Was machen die denn da?“ , diese Frage steht vielen im Gesicht geschrieben, und manche stellen sie auch konkret. Beispielsweise ein Wärter an einem Verwaltungsgebäude in Bahnhofsnähe, der sich wundert, dass King Minh und Marcel zwischen den Säulen vor den Fenstern herumturnen. Just bei der Gelegenheit schrillt ein Pfiff von der anderen Straßenseite herüber. Marcel und King Minh schauen hin, zwei junge Männer mit Baseballkappen winken, der eine geht in die Knie, schnellt hoch - und macht einen Rückwärtssalto, aus dem Stand. Unglaublich. Aber Marcel grinst nur: „Das passiert oft. Wir kennen die nicht, aber sie wollen uns zeigen, dass sie es auch können. Macht eben Spaß!“ 

Es sei eine wachsende „Community“ , die Parkour betreibe, erzählt Marcel, überall übten immer mehr junge Männer und auch Frauen diese kraftvoll kontrollierte, dynamische Outdoor-Sportart aus. Sie basiert auf der „Méthode naturelle“ , die der französische Marineoffizier Georges Hébert Anfang des 20. Jahrhunderts als Fortbewegung in der Natur entwickelte, nachdem er auf Martinique eine Flucht vor einem Vulkanausbruch organisieren musste. Sein Ziel war, ein athletisches Programm zu gestalten, bei dem Kraft, Ausdauer und Schnelligkeit zum Vorwärtskommen in jedem Gelände befähige. Ohne Hilfsmittel, ohne Konkurrenzkampf und nicht für militärische Zwecke. Dennoch wurde die Methode in den 60er Jahren während des Indochinakrieges von französischen Soldaten genutzt, um im Dschungel vor den Feinden zu fliehen. Einer dieser Soldaten war Raymond Belle, der später mit seinem Sohn David die Methode spielerisch auf die städtische Beton- und Stahl-Landschaft der Pariser Vororte übertrug. Von übermütigen kindlichen Jagden über Treppen, Tischtennisplatten, Papierkörbe und kleinere Bäche wandten sich die Belles hin zu immer schwierigeren Hindernissen wie Mauern, Zäunen, Baugerüsten, Treppen, Gebäudefassaden und Hochhäusern. Vater und Sohn Belle gaben dem Training den Namen Parkour und formulierten als Hauptziel, nur mit den Fähigkeiten des eigenen Körpers effizient von Punkt A zu Punkt B zu gelangen und dabei selbst den Weg durch den natürlichen oder urbanen Raum zu bestimmen. Parkour fand viele Anhänger, wurde zu einem regelrechten Kult und wird von seinen Betreibern als eine „kreative Kunst“ angesehen. King Minh und Marcel, die beiden Krefelder, haben sie vor fünf Jahren für sich entdeckt. Anfangs trainierten sie zusammen auf einem Spielplatz, später in Turnhallen. Und immer wieder draußen, wo es eben ging. „Mit der Zeit sieht man überall Möglichkeiten. Man muss sie nur wahrnehmen, einschätzen und loslegen!“ , beschreibt Marcel seine Erfahrungen mit dem Parkour, die der 20-Jährige genau wie sein Freund King Minh auch auf sein sonstiges Leben übertragen hat. Gemeinsam haben sie ein Freiwilliges Soziales Jahr beim Krefelder SC Bayer 05 absolviert, wo sie die Möglichkeit erhielten, eine eigene Parkour-Abteilung zu gründen. King Minh freut sich: „Jetzt mache ich ein duales Studium beim SC Bayer 05, und Marcel und ich geben Parkour-Kurse für Kinder ab 10 Jahren oder Jugendliche ab 14 Jahren. Wir möchten das bekannt machen und weitergeben. 50 Mitglieder haben wir in Krefeld jetzt schon!“ Hochhausdächer oder spektakuläre Brücken gibt es hier zwar wenige, aber wer die Augen offen hält, kommt auch auf seine Kosten. Wie Kinh Ming, der plötzlich an der Treppe des Seidenweberhauses hängt und eine „demi-tour“ , eine halbe Drehung, demonstriert. Um entweder Kraft zu schöpfen für einen Sprung höher hinauf – oder, wie heute, um präzise auf den Fußballen zu landen, den Schwung zu nutzen und mit Karacho weiter zu hechten.

www.scbayer05.sport-id.de/Erwachsenensport_Parkour